„Als OB muss man Chancen ergreifen“

„Als OB muss man Chancen ergreifen“

Wolfgang Schuster hat seit 1997 die Entwicklung Stuttgarts geprägt. Im Januar wird er seinem Nachfolger das Amt übergeben. Welche Erfolge Schuster verbuchen konnte, wie er mit Rückschlägen umging und was er gerne noch angepackt hätte, erzählt er im Interview. Zugleich verrät er, wie es für ihn persönlich weitergeht.

Herr Schuster, wenn Sie über Stuttgart nachdenken, was geht Ihnen dann zuerst durch den Kopf?
In meiner Antrittsrede habe ich mir vorgenommen „Stuttgart gemeinsam gestalten“. Das ist in weiten Teilen gelungen. Heute ist jeder Vierte ehrenamtlich aktiv und bringt sich für seine Mitmenschen ein. So viele wie nie zuvor. Die Stuttgarterinnen und Stuttgarter können von sich behaupten, in einer aktiven Bürgergesellschaft zu leben und diese zu gestalten.

Lassen Sie uns über drei Themen reden, die die Welt bewegen – und die Sie in Ihrer Amtszeit besonders forderten. Fangen wir mit der Schuldenkrise an.
Dass Schwaben mit Geld umgehen können, ist bekannt. Ich wollte immer eine Stadtkasse ohne Schulden hinterlassen. 1997 hatten wir über 800 Millionen Euro Schulden. Jahr für Jahr wurden diese Schulden im städtischen Haushalt bis auf Null abgebaut. Zugleich investierte der Konzern Stadt Stuttgart jährlich im Schnitt rund 700 Millionen Euro. Heute hat jeder Stuttgarter über 10 000 Euro städtisches Vermögen.

Zweites Thema: Der Klimawandel. Können die Kommunen hier überhaupt viel bewegen?
Bereits 1997 haben wir mit dem Klimaschutzkonzept Kliks ein maßgeschneidertes Programm vorgestellt. Heute planen wir eine Zukunft ohne CO2-Emmissionen. Dazu haben wir gemeinsam mit den Bürgern und Betrieben, mit Handel und Gewerbe die Energiewende eingeläutet.

Was ist konkret geschehen?
Wir haben das Projekt „Stadt mit Energieeffizienz“ zusammen mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung auf den Weg gebracht. Unser ehrgeiziges Ziel ist es, im Jahr 2020 20 Prozent weniger Energie zu verbrauchen als im Jahr 1990. Dafür müssen in der Stadt zusätzlich drei Milliarden Kilowattstunden eingespart werden – in etwa die Energie, die die Stuttgarter jährlich zum Heizen verwenden. Zudem soll der Energiebedarf künftig zu mindestens 20 Prozent aus erneuerbaren Energien gedeckt werden. Die Stadtverwaltung ist hier Vorreiter. Seit Anfang des Jahres beziehen wir unseren Strom zu 100 Prozent aus regenerativen Quellen.

Der Klimaschutz gelingt aber nicht allein durch die Energiewende, oder?
Ich habe mich stets für den Erhalt unserer natürlichen Ressourcen eingesetzt. Stuttgart ist mittlerweile die grünste Großstadt Deutschlands. Hier sind 39 Prozent als Landschafts- und Naturschutzgebiete ausgewiesen. Dazu gehören 5000 Hektar Wald mit Millionen von Bäumen. Frischluftschneisen werden freigehalten, um die Belüftung des Talkessels zu ermöglichen. Dies verdanken wir auch unseren 400 Hektar Weinbergen, die bis in die Innenstadt reichen. Auch für die umweltfreundliche Mobilität habe ich mich stark gemacht: In den letzten 16 Jahren haben wir für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs 16 Milliarden Euro investiert.

Kommen wir zum dritten Thema: Dem demografischen Wandel.
Auch hier sehe ich die Stadt auf gutem Weg. 2001 wurde prognostiziert, dass wir in den folgenden Jahren immer weniger Kinder in Stuttgart haben würden. Es stand zu befürchten, dass Stuttgart langfristig ein großes Altenheim würde. Heute steigen die Kinderzahlen wieder, bei den unter Dreijährigen um rund 25 Prozent im Vergleich zur Prognose. Das heißt, heute leben in Stuttgart über 3000 Kinder mehr als damals angenommen.

Kann denn Politik einen Babyboom auslösen?
Sie kann die richtigen Anreize setzen. Ich habe mich dafür stark gemacht, Stuttgart zur kinderfreundlichsten Stadt Deutschlands zu machen. Eine aktuelle Untersuchung unterstreicht, dass in Stuttgart die Trendwende erreicht wurde – und das entgegen der Entwicklung in Baden-Württemberg. Dazu notwendig war der Ausbau einer kinder- und familienfreundlichen Infrastruktur, vor allem Krippen- und Kitaplätze – und dies mit erheblichem finanziellen Einsatz: So geben wir heute im Vergleich zu 1997 mehr als doppelt so viel für Kinder und Jugendliche aus. Im vergangenen Jahr waren es über 700 Millionen Euro.

Wenn Sie auf 16 Jahre Amtszeit zurückblicken, was würden Sie als Ihren größten Erfolg bezeichnen?

Dass fast alle Jugendlichen gute Zukunftschancen haben. So liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei vier Prozent. Derzeit gibt es mehr Ausbildungsplätze als Auszubildende. Dies ist, wie ein Blick auf die europäische Landkarte zeigt, außergewöhnlich und erfreulich auch deshalb, weil 50 Prozent der Jugendlichen einen Migrationshintergrund haben.

Haben Sie alle Weichen richtig gestellt?
Als OB muss man Chancen ergreifen, die sich für die Entwicklung unserer Stadt bieten. Dabei besteht immer das Risiko, dass ein Projekt mal nicht erfolgreich ist. Aber: Wer nichts für diese Stadt wagt, blockiert die Entwicklung. Ein Beispiel ist die Bewerbung zur Austragung der Olympischen Spiele.

… bei der Stuttgart 2003 im nationalen Wettstreit auf dem letzten Platz gelandet ist …

Die Entscheidung für Leipzig war eine bundespolitische im Interesse des Aufbau Ost. Aber wir haben durch unsere Bewerbung viel bewegt. Allein schon aus Imagegründen: Die überregionalen Medien haben ein Jahr intensiv über uns berichtet. Außerdem hat die Bewerbung die Zusammenarbeit innerhalb der Region gestärkt. Und die Entwicklung des NeckarParks gäbe es ohne die Bewerbung nicht.

Warum?

Wir haben das ehemalige Güterbahnhofsgelände mit seinen 22 Hektar von der Bahn gekauft. Und auch wenn kein olympisches Dorf gebaut wurde, so haben wir begonnen, Wohnungen zu bauen und neue Arbeitsplätze anzusiedeln. Und: Aus einem alten Backsteinbau haben wir ein modernes Stadtarchiv gemacht.

Was ist auf Ihrer To-do-Liste offen geblieben?

Ich hätte gerne den NeckarPark weitergestaltet als möglichst CO2-freies Stadtquartier, in dem Familien, junge Bürger und Kreative ein neues Zuhause finden. Auch das Projekt „Science Center“ der Porsche AG hätte ich gern weiter begleitet. Gemeinsam mit der Straßenbahnwelt soll ein Mobilitätserlebnis-Zentrum entstehen, das für alle Altersgruppen attraktiv wird. Und eine weitere große Aufgabe hätte ich gerne angepackt.

Welche?
Die Gestaltung des neuen Stadtquartiers Rosenstein. Nach den ursprünglichen Plänen der Bahn sollte 2009 das Projekt Stuttgart 21 in Betrieb gehen und die Gleisflächen der Stadt übergeben werden. Ich hoffe, dass es mir durch die Diskussionsveranstaltungen im Rathaus gelungen ist, Bürgern, Stadträten und Verwaltung Lust zu machen und Neugierde zu wecken für die außergewöhnliche städtebauliche Chance.

Wenn Sie sich Stuttgart als ein Mehrgenerationenhaus vorstellen und sich selbst als gestaltenden Teil der dort lebenden Gemeinschaft. In welchem Zustand ist das Anwesen jetzt?
Es ist ein Haus, das für junge Familien ebenso attraktiv ist wie für Senioren. Und die Bürger bauen dieses Haus weiterhin kräftig mit persönlichem Engagement aus: So gibt es beispielsweise über 1500 Bildungspaten, die Schülern helfen, Bewerbungen zu schreiben, mit ihnen Stuttgart entdecken oder ihnen einfach nur vorlesen. Dieses generationenübergreifende Engagement stärkt den sozialen Zusammenhalt.

Sie waren Chef eines Unternehmens mit rund 23 000 Mitarbeitern. Wo lagen hier für Sie die größten Herausforderungen?

Der Konzern Stadt Stuttgart ist der zweitgrößte Arbeitgeber in Stuttgart. Und ein außergewöhnlicher dazu: Er bietet öffentliche Dienstleistungen von der Wiege bis zur Bahre. Gleich zu Beginn meiner Amtszeit habe ich darauf gedrängt, dass unsere Arbeit dezentral, bürgernah und effizient wird. Dazu wurden sämtliche Organisationseinheiten untersucht. So konnten die Personal- und Sachaufwendungen um jährlich über 330 Millionen Euro reduziert und sozialverträglich rund 3000 Arbeitsplätze abgebaut werden. Andererseits konnten rund 1800 Arbeitsplätze neu geschaffen werden, vor allem im Bereich der Kinderbetreuung und der Bildung.

Mit messbarem Erfolg?
Das Ansehen der Stadtverwaltung ist enorm gestiegen. In der letzten Bürgerumfrage bestätigten uns 55 Prozent der Befragten, gute Arbeit zu leisten. Kritik kam nur noch von jedem Zehnten.

Wir sprachen eingangs vom demografischen Wandel. Auch die Verwaltung als Arbeitgeber bekommt ihn zu spüren: Unternehmen und öffentliche Hand konkurrieren um junge Nachwuchskräfte. Wie kann die Verwaltung mithalten?
Es wird immer wichtiger, talentierte junge Mitarbeiter für den öffentlichen Dienst zu gewinnen, um langfristig einen qualifizierten Service zu gewährleisten. Beim Verdienst kann der öffentliche Dienst gegenüber der Privatwirtschaft kaum mithalten. Er überzeugt durch sichere Arbeitsplätze, flexible Arbeitszeiten, variable Teilzeitmodelle, Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder ein gutes Fortbildungsangebot. Außerdem punktet der öffentliche Dienst mit vielfältigen, sinnstiftenden Tätigkeiten. Wir veranstalten regelmäßig Jobbörsen, um Schüler wie Lehrer über die vielfältigen Ausbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten zu informieren. In der Kampagne „Deine Stadt – Deine Zukunft“ sprechen wir gezielt Jugendliche mit Migrationshintergrund in deren Muttersprachen an.

Kennzeichen Ihrer Arbeit ist die Bildung von Netzwerken. Warum halten Sie die Zusammenarbeit von Kommunen auf nationaler und internationaler Ebene für so wichtig?
Komplexe Themen wie Klimawandel, Umweltschutz oder Integration können nicht im Alleingang gelöst werden. Stuttgart ist keine Insel, wir arbeiten auf kommunaler, nationaler, europäischer und internationaler Ebene zusammen. Ich habe mehrere fachbezogene Netzwerke gegründet, darunter „Cities for Mobility“, „Cities for Children“, „Cities for Local Integration Policies“ und „Cities for Sports“. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lernen von Anderen und entwickeln im Dialog innovative Strategien.

Ist das ein Appell zur Fortsetzung des Engagements auf internationaler Ebene?

Die lokale Verwaltung darf nicht im eigenen Saft schmoren. Stuttgart und sein Umland gehören zu den exportstärksten Regionen weltweit. Es gibt keine Stadt auf der Erde ohne Stuttgarter Produkte und kein Land ohne Niederlassungen Stuttgarter Firmen. Als Gewinner der Globalisierung erwächst daraus eine besondere Verantwortung der Kommunalpolitik, der Bürgerschaft, der Wirtschaft und der Wissenschaft.

Werden Sie sich auch weiterhin international engagieren?
Ich bleibe bis November 2013 Präsident des Rats der Gemeinden und Regionen Europas und Vizepräsident des Weltverbandes der Kommunen und Regionen. Diese Arbeit trägt dazu bei, erfolgreichen Stuttgarter Initiativen international Gehör zu verschaffen und fördert somit unser gutes Image.

Sie sind in Ihrer Amtszeit vielen Menschen begegnet. Wer hat Sie dabei am meisten beeindruckt?
Der Dalai Lama. Das Treffen mit ihm hat mich tief bewegt. Seine Gelassenheit, seine Heiterkeit faszinieren mich bis zum heutigen Tage.

Sie waren in der ganzen Welt unterwegs und haben viele Städte besucht. Was hat Stuttgart, was andere nicht bieten können?
Die einmalige Topografie. Kaum eine andere Stadt hat so viele tolle Aussichtspunkte und so viel Grün im Stadtbild. Dann die pulsierende Wirtschaft mit einer herausragenden Innovationskraft. Und das bürgerschaftliche Engagement, das sich auch in der hohen Zufriedenheit der Stuttgarter niederschlägt. So sagen 85 Prozent der Stuttgarter, dass sie gerne hier leben.

Weihnachten steht vor der Tür, die Zeit der Wünsche. Was wünschen Sie den Stuttgarterinnen und Stuttgartern?
Ich wünsche uns allen, dass wir weiterhin friedlich und tolerant zusammenleben können. Zudem hoffe ich, dass wir auch genügend Arbeits- und Ausbildungsplätze für die nächste Generation in Stuttgart haben.

Und Ihrem Nachfolger?
Persönlich wünsche ich Fritz Kuhn Gesundheit und Freude sowie einen langen Atem bei der Arbeit. Zudem wünsche ich ihm, dass er sich schnell in seinen Aufgaben zurechtfindet und erfolgreich für uns alle wirken kann.

Im neuen Jahr beginnt auch ein neuer Lebensabschnitt für Sie. Wissen Sie schon, wie Ihr erster Tag nach Ihrer Amtszeit aussehen wird?

Ich werde mich in Paris mit dem französischen Arbeitsminister treffen, um mit ihm über meinen Vorschlag zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zu diskutieren. Ich habe schon zugesagt, mich stärker in den Rat für Nachhaltige Entwicklung und den Sachverständigen Rat für Demografischen Wandel einzubringen. Über weitere Aufgaben habe ich noch nicht entschieden.

Gibt es persönliche Projekte, die jetzt an der Reihe sind?
Ja, ich möchte mich um meine beiden Enkelkinder kümmern und endlich die energetische Sanierung meines Wohnhauses anpacken.