Demografie-Wegweiser für unsere Gesellschaft
Wir werden immer älter, bleiben länger gesund und fit – doch gleichzeitig werden aber immer weniger Kinder geboren. Die demografische Entwicklung wird in Deutschland in den nächsten Jahrzehnten gravierende Veränderungen zur Folge haben. Doch wie kann der Überalterung der Gesellschaft entgegengetreten werden? Dieser Frage widmen sich Prof. Dr. Wolfgang Schuster, Direktor des Instituts für Nachhaltige Stadtentwicklung und ehemalige Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Stuttgart, und Prof. Dr. Ulrich Reinhardt, Wissenschaftlicher Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen. Ihr gemeinsam verfasstes Buch „Generationenvertrag statt Generationenverrat“ befasst sich sowohl mit den Auswirkungen und Herausforderungen des demografischen Wandels als auch mit konkreten Lösungsvorschlägen im Umgang mit einer älter werdenden Gesellschaft.
Im ersten Teil des Buches geht Prof. Dr. Ulrich Reinhardt, Wissenschaftlicher Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen, der Frage nach, wie die Deutschen den demografischen Wandel erleben – und wie sie in Zukunft mit dieser gesellschaftlichen Transition leben wollen. Dafür wird ausgelotet, welche Probleme und Herausforderungen den Bürgern die meisten Ängste und Sorgen bereiten, welche Reformen sie unterstützen würden und in welchen Feldern sie zur Eigeninitiative bereit wären.
Im zweiten Teil von Prof. Dr. Wolfgang Schuster, Oberbürgermeister a.D. von Stuttgart und Geschäftsführer des Instituts für nachhaltige Stadtentwicklung, werden die politischen Konsequenzen untersucht und es wird anhand von Praxisbeispielen für unterschiedliche Bereiche und Handlungsebenen verdeutlicht, wie den anstehenden Herausforderungen erfolgreich begegnet werden kann.
Das Vorwort hat Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble verfasst: „Ulrich Reinhardt und Wolfgang Schuster betonen in ihrem Buch zu Recht, dass wir konkrete Antworten im Rahmen einer ganzheitlichen Lösung finden müssen. Sie haben dabei vor allem die Kommunen im Blick. Sie plädieren für einen „Generationenvertrag vor Ort“, nach Vorbild des Stuttgarter Generationenvertrages, der 2007 erfolgreich von Wolfgang Schuster als damaligem Stuttgarter Oberbürgermeister ins Leben gerufen worden war. Zahlreiche Städte sind seither diesem Vorbild gefolgt. Sie setzen darauf, ihre Zukunftsfähigkeit durch eine neue Qualität des Miteinanders der Generationen zu verbessern. Wie dies im Einzelnen gelingen kann, dafür liefert der vorliegende Band zwar keine Blaupause, die es aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen von Städten und Gemeinden ohnehin nicht geben kann. Aber das Buch bietet einen starken Orientierungsrahmen mit zahlreichen konkreten Anwendungsbeispielen. Die thematische Spannbreite reicht dabei von Bildungs- und Integrationsmaßnahmen über generationenübergreifende Netzwerke und Einrichtungen – Stichwort: „sorgende Gemeinschaft“ („caring community“) – bis hin zur Organisation einer örtlichen Kranken- und Pflegebetreuung.“
Konkret hat sich Prof. Dr. Schuster um die möglichen Probleme einer demografischen Entwicklung beschäftigt. Was passiert, wenn nichts passiert: Der Generationenverrat.
1. Demografische Entwicklung
Die Deutschen sind die Ältesten in Europa und die Zweitältesten in der Welt – was per se eine erfreuliche Perspektive für uns alle ist. Doch nur 13,5 Prozent der Bundesbürger sind jünger als 15 Jahre. Bezogen auf die Bevölkerung insgesamt werden heute acht Kinder je tausend Einwohner geboren, das ist die niedrigste Rate weltweit. Das liegt nicht nur an der niedrigen Geburtenzahl von durchschnittlich 1,4 Geburten je Frau. Mitverantwortlich für diesen Negativrekord ist auch ein eigentlich durchaus positiver Trend: Die Lebenserwartung der Deutschen steigt ständig.
2. Integration der Einwanderer
Ohne Einwanderung wäre die demografische Entwicklung noch sehr viel schwieriger. So haben in Stuttgart rund 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund – und trotzdem leben in weniger als 20 Prozent aller Haushalte noch Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.
3. Jugendarbeitslosigkeit
Fehler in der Bildung- und der Arbeitsmarktpolitik haben dazu geführt, dass inzwischen über sieben Millionen junge Menschen in den EU-Staaten arbeitslos sind. Zugleich wird die wirtschaftliche Entwicklung in einigen Teilen Europas, z. B. Süddeutschlands, durch den Mangel an Fachkräften gebremst.
4. Pflegebedürftigkeit
Mit der Entwicklung der Lebenserwartung ist auch die Pflegebedürftigkeit verknüpft. Sind heute schon 2,3 Millionen Menschen auf Pflege angewiesen, werden es im Jahr 2030 voraussichtlich 3,4 Millionen Menschen sein. Woher sollen die über eine Million notwendigen Pflegekräfte für die Krankheits- und Pflegefälle kommen – und wer soll die Kosten bezahlen?
5. Rentenlasten
Wachsende Renten- und Pensionslasten müssen von den künftigen Erwerbstätigen finanziert werden. Um die Beitragssätze auf 19,9 Prozent zu halten, bezuschusst der Bund die Rentenversicherung bereits mit über 60 Milliarden Euro jährlich mit weiter steigender Tendenz. Bereits im Jahr 2030 kommen 53 „Alte“ auf 100 Erwerbspersonen mit der Folge drastisch steigender Sozialabgaben.
6. Öffentliche Schulden
Über zwei Billionen Schulden haben Bund, Länder und Gemeinden inzwischen aufgetürmt. Selbst in wirtschaftlich guten Jahren wie 2012, wenn die Steuereinnahmen deutlich über Plan fließen, ist es den meisten Gebietskörperschaften nicht gelungen, ihre Haushalte ohne neue Schulden auszugleichen. 2019 soll die Schuldenbremse greifen, dann müssen über 2000 Milliarden Euro nach und nach zurückbezahlt werden.
7. Produktivität der Unternehmen
Unabhängig von der Frage, ob die wachsende Zahl älterer MitarbeiterInnen die notwendige Innovationsbereitschaft und Innovationsfähigkeit sowie Leistungsfähigkeit mitbringen, müssen sich die Unternehmen bis 2030 darauf einstellen, mit 6,3 Millionen weniger Erwerbsfähigen im Alter von 20 bis 64 Jahren auszukommen. Gleichzeitig sollten sie aber so produktiv sein, dass sie mit ihren Arbeitsplätzen und Steuern einen Zuwachs von 5,5 Millionen von über 65jährigen finanzieren können. Die Zunahme der über 65-Jährigen geht auch nach 2030 weiter.
8. Reformwilligkeit
Wir groß ist die Bereitschaft, Einschränkungen und Nachteile zu tragen, um z. B. den Klimawandel und die Energiewende zu gestalten oder große Infrastrukturprojekte, deren Vorteile erst in ferner Zukunft liegen, zu akzeptieren und mitzufinanzieren?
9. Eigenverantwortung
Wie stark ist die ältere Generation bereit, selbst finanzielle Vorsorge zu treffen, um durch systematisches Sparen der Gefahr der Altersarmut zu begegnen und durch eine gesunde Lebensweise auf mancherlei lieb gewonnener Lebensgewohnheiten zu verzichten?
10. Solidarität innerhalb der älteren Generation
Wie weit trägt der Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit, wenn es um die fairere Verteilung materieller Güter und finanzieller Vorteile geht, um damit letztlich die jüngere Generation zu entlasten?
Die zehn kurz skizzierten Problemfelder zeigen, dass aus dem schleichenden Generationenverrat ein offener Generationenkonflikt werden wird, wenn sich die junge Generation um ihre Zukunftschancen nicht nur Sorgen macht, sondern auch um ihre Chancen geprellt sieht. In der Charta der Grundrechte der EU heißt es: Die Ausübung dieser Rechte ist mit Verantwortung und mit Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen verbunden. In Artikel 3 des Vertrages über die Europäische Union (Lissabon-Vertrag) fördert die EU die Solidarität zwischen den Generationen. Deshalb ist es aus EU-rechtlichen, sozialen wie wirtschaftlichen Gründen zwingend, neue Wege zu entwickeln und konsequent zu begehen, um aus der sich verschärfenden Konfliktsituation herauszukommen.
Der Generationenvertrag: Sorgende Gemeinschaften in einer integrativen Stadtgesellschaft
Es gilt, konkrete Antworten zu finden im Rahmen einer ganzheitlichen Lösung. Diese kann in Form eines gesellschaftlich verbindlichen Generationenvertrags vor Ort erfolgen. Dass dies möglich ist, zeigt das Beispiel des Stuttgarter Generationenvertrags. Der Stuttgarter Generationenvertrag wurde 2007 unter Beteiligung vieler gemeinnütziger Organisationen, Sport- und Kulturvereinen, Selbsthilfegruppen und einer großen Zahl aktiver BürgerInnen beschlossen.
Die Aufgabenfelder sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben, die wir als Verantwortliche in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und in der Bürgerschaft nur gemeinsam lösen können.
1. Die kinderfreundliche Stadtgesellschaft
Wir wollen den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen, von Familien und Alleinerziehenden durch eine kinderfreundliche Stadtgesellschaft besser gerecht werden.
2. Willkommenskultur für Einwanderer
Wir wollen soziale Integration und kulturelle Vielfalt fördern, damit sich die Einwanderer willkommen fühlen und aktiv in unsere Stadtgesellschaft einbringen.
3. Selbstbestimmtes Leben in sicherem Wohnumfeld
Wir wollen individuell auf die Bedürfnisse der Älteren, ob inländischer oder ausländischer Herkunft, eingehen und sie durch Beratung und Hilfen im Alltag unterstützen, damit sie möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben in ihrer Wohnung und in dem vertrauten, sicheren Umfeld führen können.
4. Generationenübergreifende Netzwerke
Wir wollen wohnortnahe Begegnungsmöglichkeiten in Generationenhäusern, Bürgerhäusern, Vereinstreffs, kirchlichen Gemeindezentren etc. anbieten und neue Netzwerke des Miteinanders der Generationen zur gegenseitigen Unterstützung und zur Selbsthilfe fördern.
5. Bildungsangebote für lebenslanges Lernen
Wir wollen die Bildungsangebote für lebenslanges Lernen fördern, beginnend im Kindergarten, in der schulischen, beruflichen wie kulturellen Bildung, um die notwendige geistige Mobilität von Jung und Alt und das Lernen voneinander und miteinander zu ermöglichen.
6. Bewegungs- und Sportangebote für Gesundheit und soziales Miteinander
Wir wollen dezentrale, altersgerechte Bewegungs- und Sportangebote unterstützen, die unsere Gesundheit fördern, unsere Leistungsbereitschaft steigern wie dem sozialen Miteinander dienen.
7. Hilfen bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit
Wir wollen qualifizierte ambulante Hilfen anbieten, damit die Älteren möglichst lange in ihrem Wohnumfeld bleiben können, doch wenn nötig, eine spezialisierte Kranken- und qualifizierte stationäre Pflegeversorgung erhalten.
8. Arbeitsmöglichkeiten für alle Jüngeren wie Älteren
Wir wollen mitwirken, dass alle faire Chancen bekommen zu arbeiten, nicht zuletzt ältere MitarbeiterInnen durch angepasste Arbeitsbedingungen.
9. Ökologische Stadtentwicklung
Wir wollen durch eine Ökologiestrategie dazu beitragen, die natürlichen Lebensgrundlagen für die nachfolgenden Generationen zu erhalten, natürliche Ressourcen zu schonen und Umweltschäden soweit wie möglich zu beseitigen.
10. Solide öffentliche Finanzen
Wir wollen den Verteilungskampf der Generationen, das drohende Gegeneinander von Jung und Alt um materielle Ressourcen, öffentliche Subventionen und Dienstleistungen vermeiden, indem wir uns für eine ausgewogene faire Ausgabenpolitik und einen konsequenten Schuldenabbau einsetzen.
Sorgende Gemeinschaften in einer integrativen Stadtgesellschaft
Die demografische Herausforderung lässt sich nur durch ein Miteinander der Generationen, das auf Generationengerechtigkeit abzielt, lösen. Dabei ist eine integrative Stadtgesellschaft mit einer Vielzahl von sozialen Netzen eine gute Grundlage, um die Idee von sorgenden Gemeinschaften tatsächlich umzusetzen. Notwendig dafür sind professionelle Dienstleistungsnetzwerke möglichst wohnortnah erreichbar und mit persönlichem Kontakt zu den Hilfesuchenden. Diese verbinden sich mit ehrenamtlicher Hilfe auf Gegenseitigkeit, vor allem in der Nachbarschaft, in der man sich kennt.
Das Buch ist im Herder-Verlag erschienen unter der ISBN 978-3-451-33276-0.
Ulrich Reinhardt
Ulrich Reinhardt ist Wissenschaftlicher Leiter der »Stiftung für Zukunftsfragen« in Hamburg. Außerdem ist er Professor am »Zentrum für Zukunftsstudien« der Fachhochschule Salzburg.
Wolfgang Schuster
Wolfgang Schuster war von 1997 bis 2013 Oberbürgermeister von Stuttgart. Er steht zahlreichen nationalen und internationalen Vereinigungen vor.